Digitaler DGN-Kongress 2020: Industriesymposien als Auslaufmodell?

(18.11.2020) Der DGN-Kongress 2020 wird wohl als Erfolgsgeschichte in Erinnerung bleiben: Mitten in der Coronakrise innerhalb weniger Monate aus der Erde gestampft, einige hundert Veranstaltungen, viele tausend Teilnehmer, interaktive Formate und Webcasts, die man sich ein ganzes weiteres Jahr ansehen kann. Dazu die Erfahrung der digitalen Autonomie, die es erlaubt, alle Angebote zur passenden Zeit und an jedem Ort zu nutzen. Und auch kein umständliches An- und Abreisen, kein ökologischer Fußabdruck. Schon hat die DGN-Führung angekündigt, die Errungenschaften des digitalen Kongresses beizubehalten und zumindest ein hybrides Format aus Präsenzveranstaltungen und Web-basierten Angeboten zu entwickeln.

Auch in diesem Jahr hatte die Pharmaindustrie die Gelegenheit, auf dem DGN-Kongress eigene Veranstaltungen anzubieten. Damit nahm die DGN bis zu 57.500 € pro Veranstaltung ein, insgesamt über eine Million €. Welcher eigene Aufwand und welche Kosten diese hohen Einnahmen rechtfertigen, bleibt unklar.

NeurologyFirst kritisiert seit Jahren die Industriesymposien, die in erster Linie der Produktwerbung dienen und die die Regeln der wissenschaftlichen Kommunikation immer wieder verletzen. Daran hat sich auch in der digitalen Variante nichts geändert. Zu Krankheiten, bei denen die pharmazeutischen Unternehmen besonders hohe Gewinne erzielen, finden die Kongressteilnehmer weit mehr industrielle als wissenschaftliche Veranstaltungen im Programm. Die „Überlegenheit“ der neuen und teuren Arzneimittel kommt in den Industriesymposien oft nur kasuistisch oder in Gestalt von selektierten Daten minderer Güte daher. So wird etwa ein CGRP-Antagonist mit den Ergebnissen einer aktuellen unkontrollierten „Real World“-Studie gepriesen: über 70% der Patienten hätten profitiert. Dagegen zeigen die methodisch hochwertigen kontrollierten Zulassungsstudien, dass sich nach Abzug der Plazeborate nur etwa 20% der Patienten relevant verbessern.

Interessant ist das neue Nutzerverhalten, ablesbar an den Aufrufen der einzelnen Vorträge: Während herkömmliche Industrieveranstaltungen meist 500 bis über 1000 Teilnehmern von Anfang bis Ende binden konnten, werden diese Größenordnungen nun allenfalls beim Eröffnungsvortrag erreicht, um bei jedem weiteren Vortrag abzubröckeln, oft auf unter 100 Teilnehmer. Die digitale Mobilität macht die Zuhörer offensichtlich volatiler, der soziale Rahmen der Präsenzveranstaltung entfällt. Da die Pharma-gesponserten Kongressreisen entfallen, fühlt sich auch keiner mehr verpflichtet, die Veranstaltung seines Sponsors zu besuchen. Die Firmen werden sich überlegen, ob sich diese Formate noch lohnen. Längst können sie Ärztinnen und Ärzte direkter im Netz ansprechen und bei der Stange halten, beispielsweise durch honorierte Onlinebefragungen oder Produkt-orientierte CME-Fortbildungen, die natürlich ebenso einseitig informieren.

Umgekehrt ist die DGN inzwischen auf die Querfinanzierung des Kongresses durch die Industrie viel weniger angewiesen, da die Kosten für einen digitalen Kongress weit unter denen einer Präsenzveranstaltung liegen. Auf bisherigen komfortablen Kongressüberschüsse aus den Industriesymposien müsste man natürlich verzichten. Die gesunkenen Kosten führten schon in diesem Jahr zu schlanken Teilnehmergebühren von 90 € für DGN-Mitglieder, die zudem von der Steuer absetzbar sind. Was läge für die DGN näher, als nun selbst die Initiative zu ergreifen und sich von den kommerziell motivierten Industriesymposien zu trennen, die anfällig für verzerrte Informationen sind. Die wissenschaftliche Reputation unserer Fachgesellschaft würde von einem Verzicht auf Industriesymposien sicherlich profitieren.