Hintergrund

Hintergrundinformationen zum Appell an die medizinischen Fachgesellschaften in Deutschland zum Umgang mit Interessenkonflikten

Die gegenwärtig enge Verflechtung von Leitlinien-Autoren mit der Industrie lässt sich beispielhaft an der AWMF-Leitlinie „Sekundärprävention ischämischer Schlaganfall und transitorische ischämische Attacke“ vom Januar 2015 ablesen 1. Sie steht exemplarisch für viele andere Leitlinien der AWMF, die inzwischen die Interessenkonflikte der Beteiligten zwar deklarieren, aber unzureichend regulieren 2. An der Schlaganfall-Leitlinie waren Vertreter von 19 Fachgesellschaften und Verbänden beteiligt. Die Leitlinie entspricht dem höchsten methodischen Niveau S3. Tatsächlich wurden hier die Vorgaben des AWMF-Regelwerks aufwendig und sorgfältig umgesetzt 3. Dazu gehörte die Einbindung von Methodikern und Patientenverbänden, die Formulierung von Schlüsselfragen, die Identifikation methodisch hochwertiger Quellleitlinien, eine systematische Literaturrecherche mit Erstellung von Evidenztabellen, ein moderierter Konsensprozess mit Beteiligung der AWMF, ein begleitender Leitlinienreport und nicht zuletzt eine Empfehlung zur partizipativen Entscheidungsfindung zwischen Arzt und Patient.

Die Interessenkonflikte der Leitliniengruppe werden im Leitlinienreport transparent beschrieben 3. Der Umgang mit den Interessenkonflikten bleibt jedoch problematisch. Im Leitlinienreport heißt es dazu: „Alle Mitglieder der Leitliniengruppe gaben an, dass keine bedeutsamen Interessenkonflikte sie an der Teilnahme an dem Leitlinienvorhaben hindern würden. … Die Evaluation aller Erklärungen wurde abschließend auf der zweiten Konsensuskonferenz diskutiert, mit dem Ergebnis, dass keine Interessenkonflikte vorlagen, die einen Ausschluss aus der Leitliniengruppe nach sich gezogen hätten. Falls ein stimmberechtigtes Mitglied aufgrund von Interessenkonflikten bei der Konsentierung der Empfehlungen einzelner Schlüsselfragen nicht unbefangen abstimmen konnte, bestand die Auflage, dass sich der- bzw. diejenige bei dieser Abstimmung enthalten würde“ 3.

Am Beispiel der Empfehlung 13.10 zum Einsatz von Antikoagulantien wird deutlich, dass diese Abstinenz bei Befangenheit nicht konsequent eingehalten wurde. Die Empfehlung lautet:

„Die neuen Antikoagulantien (d.h. Dabigatran, Rivaroxaban und Apixaban) stellen eine Alternative zu den Vitamin-K-Antagonisten dar und sollten aufgrund des günstigeren Nutzen-Risiko-Profils zur Anwendung kommen. (Empfehlungsgrad B)“ 1. Laut Leitlinienreport wurde die Empfehlung mit 10 zu 9 Stimmen in der Stichwahl ausgesprochen. Unter den 23 stimmberechtigten Mitgliedern der Leitliniengruppe gaben 10 an, Beraterverträge mit den Herstellern der neuen oralen Antikoagulantien zu haben. Sechs weitere waren über Vortragshonorare mit den Herstellern dieser Medikamente verbunden. Von diesen 16 Befangenen enthielten sich jedoch nur sechs bei der Abstimmung, in der Stichwahl nur noch vier 3.

Die Rolle der neuen Antikoagulantien wird auch unter Spezialisten kontrovers beurteilt, wie es das knappe Abstimmungsergebnis und auch die heterogenen Empfehlungen internationaler Leitlinien zeigen. So gibt beispielsweise die American Heart Association den herkömmlichen Vitamin-K-Anatagonisten einen höheren Empfehlungsgrad als den neuen Antikoagulantien 4. Zwar weiß niemand, ob die finanziellen Beziehungen zur Industrie die Entscheidung der deutschen Leitlinienautoren beeinflusst haben, sie sind aber als Risikofaktor für eine Beeinflussung anzusehen 5 und wecken Zweifel an der Glaubwürdigkeit einzelner Empfehlungen. Die nicht berücksichtigten Interessenkonflikte schaden der Leitlinie, unabhängig davon, ob die Empfehlungen wissenschaftlich korrekt sind oder nicht.

Der Prozess der Leitlinienerstellung erstreckte sich von September 2010 bis Juli 2013. Inzwischen ist die Diskussion über Interessenkonflikte vorangeschritten 6-8. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie veröffentlichte 2014 Handlungsrichtlinien im Umgang mit wirtschaftlichen Interessen, die mindestens 50% unabhängige Leitlinienautoren fordern und die Abstinenz befangener Mitglieder bei Abstimmungen 9. Weiterhin wird dort die Entwicklung von Kriterien zur Bewertung von Interessenkonflikten in Aussicht gestellt. Daher hoffen und erwarten wir, dass die AWMF und die beteiligten Fachgesellschaften heute anders und kritischer mit Interessenkonflikten umgehen würden als zum Zeitpunkt der Erstellung dieser Leitlinie. Wir alle setzen voraus, dass weder ein Richter, ein Prüfingenieur der Stiftung Warentest noch ein Schiedsrichter vertragliche Beziehungen zu einer interessierten Partei hat. Für Ärzte und Wissenschaftler liegt die Messlatte mindestens ebenso hoch. Die psychologische Forschung hat immer wieder gezeigt, dass wir unsere eigene Befangenheit nur schlecht erkennen („Bias blind spot“) 10. Daher braucht die AWMF eindeutige Regeln zum Umgang mit Interessenkonflikten bei Leitlinienautoren.

  1. www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/030-133l_S3_Sekunärprophylaxe_ischämischer_Schlaganfall_2015-02.pdf
  2. Langer T, Conrad S, Fishman L, Gerken M, Schwarz S, Weikert B, et al.: Interessenkonflikte bei Autoren medizinischer Leitlinien: Eine Analyse der Leitlinien deutscher Fachgesellschaften 2009-2011. Dtsch Arztebl 2012; 109: 836–42
  3. www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/030-133m_S3_Sekunärprophylaxe_ischämischer_Schlaganfall_2015-02.pdf
  4. 2014 AHA/ACC/HRS guideline for the management of patients with atrial fibrillation: Executive summary. Circulation 2014;130:2017-2104.
  5. Wang AT, McCoy CP, Murad MH, Montori VM. Association between industry affiliation and position on cardiovascular risk with rosiglitazone: cross sectional systematic review. BMJ 2010;340: c1344
  6. Lieb K, Klemperer D, Ludwig WD. Interessenkonflikte in der Medizin. Springer, Berlin 2011.
  7. www.nationalacademies.org/HMD/~/media/Files/Report%20Files/2011/Clinical-Practice-Guidelines-We-Can-Trust/Clinical%20Practice%20Guidelines%202011%20Insert.pdf
  8. Lempert T, von Brevern M. Regulierung von Interessenkonflikten: Die Fachgesellschaften sind am Zug. Dtsch Ärztebl 2015; 112:A84-86.
  9. www.dgn.org/images/red_dgn/pdf/handlungsrichtlinien_2014_forumneurologicum.pdf
  10. Felser G, Klemperer D. Psychologische Aspekte von Interessenkonflikten. In: Lieb K, Klemperer D, Ludwig WD. Interessenkonflikte in der Medizin. Springer, Berlin 2011; 27-45.

 

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