Reformkräfte

Die Debatte um die Praktiken der Pharmaindustrie hat Tempo aufgenommen. Wer sind dabei die treibenden Kräfte und wer die Bremser?

Stichwortgeber der pharmakritischen Debatte ist die Evidenzbewegung, die all jene Verzerrungen offengelegt hat, mit denen die Pharmaindustrie den wissenschaftlichen Prozess zu ihren Gunsten beeinflusst.  Allen voran der britische Psychiater Ben Goldacre, der mit seinem Buch „Bad Pharma“ und seiner Alltrials-Kampagne zur Offenlegung aller Studiendaten einen Erdrutsch ausgelöst hat. 1

Gegen die Verflechtung von Ärzteschaft und Pharmakonzernen erhebt die wachsende internationale Ärztebewegung „No free lunch“ ihre Stimme. Der Slogan verdeutlicht, dass jedes Sponsoring mit einer erwarteten Gegenleistung verknüpft ist. Die zunehmend pharmakritischen Beiträge der Herausgeber führender medizinischer Zeitschriften kamen dagegen für viele unerwartet, machen diese Journale doch mit der Publikation industriefinanzierter Studien ihren größten Umsatz. Zu den Wortführern gehören Marcia Angell (NEJM), Richard Horton (Lancet) sowie Richard Smith und Fiona Godlee (BMJ).

Eine weitere Reformkraft sind die US-Gerichte, die in den letzten Jahren fast alle großen Pharmafirmen wegen krimineller Marketing-Aktivitäten zu hohen Geldstrafen verurteilten. Auf dieser Seite des Atlantiks hat sich die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) hervorgetan, die gegen viele Widerstände eine Politik der Offenlegung von Studiendaten verfolgt. Die Europäische Kommission und das europäische Parlament sind inzwischen dabei, dieser Studientransparenz Gesetzesrang zu verschaffen.

Mittlerweile hat die Reformbereitschaft die Pharmaindustrie selbst erfasst. Immer mehr Firmen verpflichten sich, alle Studiendaten offen zu legen, einige wollen auf Zuwendungen an Ärzte gänzlich verzichten. Der Europäische Verband der Arzneimittelindustrie kündigte die Veröffentlichung aller Zahlungen an Ärzte ab 2016 an. Motiviert wird die Industrie durch einen zunehmenden Imageverlust, der sich mit ihrem Wirken für die öffentliche Gesundheit nicht verträgt und zudem potentielle Studienteilnehmer abschreckt. 2

Die Mehrzahl der deutschen Arzneimittelfirmen sieht inzwischen ihre finanziellen Beziehungen zu Ärzten als korruptionsanfällig an. 3 Unter reformierten Rahmenbedingungen könnten sie auf das Ärzte-Sponsoring verzichten, ohne einen Wettbewerbsnachteil zu erleiden.

Seltsam unbeteiligt wird die Diskussion dagegen von der Politik verfolgt. Zwar will man in Deutschland die eigentliche Ärztekorruption bestrafen, alle anderen Arten der Verfilzung aber nicht antasten. Auffällig abwesend im Chor der Reformwilligen sind auch die offiziellen ärztlichen Gremien, beispielsweise die Ärztekammern und die medizinischen Fachgesellschaften – von wenigen Ausnahmen abgesehen. Obwohl sie durch ihre Berufsethik darauf verpflichtet sind, allein dem Patientenwohl zu dienen, nehmen sie die kommerziell motivierte Manipulation von Wissenschaft und medizinischer Fortbildung durch die Pharmaindustrie unwidersprochen hin. Die Verlockung des Geldes scheint zu stark, um ihr aus eigener Kraft zu widerstehen.

  1. www.alltrials.net
  2. Editorial. Nature 2014; 505: 131
  3. Gefährliche Geschäfte. Pharmafirmen beklagen Korruptionsrisiken. Tagesspiegel, 16.4.2013