Galerie der unabhängigen Köpfe
Ignaz Semmelweis (1818-1865)
Evidenzbasierter Arzt und Risiko-Manager der ersten Stunde. Entdeckte den Zusammenhang von Kindbettfieber und mangelnder ärztlicher Hygiene. Stieß bei seinen ärztlichen Kollegen auf Empörung, weil sie sich zu Unrecht angegriffen fühlten. Nach ihm wurde der Semmelweis-Reflex benannt: echte wissenschaftliche Fortschritte werden demnach eher bestraft als honoriert, weil etablierte Paradigmen und Verhaltensmuster der Veränderung im Wege stehen. (Bildquelle: commons.wikipedia.org)
Ivan Illilch (1926-2002)
Der Philosoph, Theologe und katholische Priester Ivan Illich arbeitete im zunächst im Vatikan, dann in einer Einwanderer-Gemeinde in New York, später an Universitäten in Puerto Rico und Mexiko und zuletzt als Gastprofessor in Bremen. Er wurde nicht nur zu einem Mitbegründer der Befreiungstheologie, sondern auch zum Vater der Medizinkritik. Sein Buch „Die Nemesis der modernen Medizin. Die Kritik der Medikalisierung des Lebens“ löste 1975 weltweit Diskussionen aus – und laute Entrüstung in der Ärzteschaft. Nemesis ist die griechische Göttin des gerechten Zorns, deren Rache die menschliche Überheblichkeit heimsucht. Illich kritisiert Ärzte und Pharmaindustrie, die Medizin zum Produkt und den Patienten zum abhängigen Verbraucher machten. So werde die Akzeptanz von Krankheit und Tod verdrängt und durch den Glauben ersetzt, dass Krankheit grundsätzlich reparabel sei. Gerade in den armen Ländern verursache die technokratische westliche Medizin mehr Schaden als Nutzen. (Bildquelle: commons.wikimedia.org, Amano1)
Steven Nissen (*1948)
Leitender Kardiologe der Cleveland Clinic, ehemaliger Präsident des American College of Cardiology. Beschrieb 2007 eine um 43% erhöhte Rate an Herzinfarkten und Herzinsuffizienz unter dem Antidiabetikum Rosiglitazon und reichte den Artikel beim NEJM ein. Bekam kurz darauf Besuch von Vertretern der Herstellerfirma Glaxo, die von einem Reviewer des NEJM informiert worden war, der wiederum bei Glaxo unter Vertrag stand. Wurde von den Glaxo-Leuten gebeten, die Publikation zurückzuziehen, obwohl die Statistiker von Glaxo das Risiko seit 2000 kannten und intern seine Zahlen bestätigten. Schnitt das ungewöhnliche Gespräch mit und publizierte seine Arbeit im NEJM. Behielt am Ende recht: Rosiglitazon verschwand 3 Jahre später und Glaxo musste 2012 unter anderem wegen des Verschweigens dieser Nebenwirkungen und der Einschüchterung von Wissenschaftlern eine Strafe von 3 Mrd. Dollar zahlen. (Bildquelle: Steven Nissen, privat)
Chuck Grassley (*1938)
US-Senator, Republikaner, konservativ bis in die Knochen. Arbeitet seit Jahren im Finanzausschuss des Senats und kontrolliert dort die Ausgaben für die staatlichen Versicherungen Medicare und Medicaid, wo mehr als 70 Millionen Amerikaner versichert sind. Verabscheut staatliche Geldverschwendung und wurde dadurch zum Kritiker der Pharmaindustrie. Leitete mehrere Ausschüsse, in denen illegale Praktiken der Pharmaindustrie vom Ghostwriting über das Off-Label-Marketing bis zum Verheimlichen von Nebenwirkungen aufgedeckt wurden. Initiierte den „Physician Payment Sunshine Act“, der ab 2014 die Offenlegung aller Zahlungen der Industrie an die Ärzte vorsieht. Das Europäische Pendant wird gemäß einer Selbstverpflichtung der Pharmaindustrie spätestens 2016 folgen. (Bildquelle: en.wikipedia.org)
Marcia Angell (*1939)
Internistin, Pathologin, Lehrbuchautorin („Basic Pathology“). Hatte nach ihrer Zeit als Herausgeberin des New England Journal of Medicine genügend Wut im Bauch, um ein viel grundsätzlicheres Pathologiebuch zu schreiben: „The truth about the drug companies: how they deceive us and what to do about it“ (2004), zu deutsch: „Der Pharmabluff: Wie innovativ die Pillenindustrie wirklich ist“ (2005). (Bildquelle:en.wikipedia.org)
Bruno Müller-Oerlinghausen (*1936)
Emeritierter Professor für klinische Pharmakologie an der Psychiatrischen Klinik der FU Berlin. Experte für die Langzeittherapie manischer und manisch-depressiver Erkrankungen. 1994-2006 Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Träger der Paracelsus-Medaille der Deutschen Ärzteschaft. Gründungsmitglied der Ärzteinitiative MEZIS („Mein Essen zahl ich selbst“). Setzt sich in der Öffentlichkeit kritisch mit der Überverordnung von Psychopharmaka auseinander. Analysiert regelmäßig die Psychopharmaka-Verordnungen für den jährlich erscheinenden „Arzneiverordnungsreport“. Gibt sein Insider-Wissen über die pharmakritische Laien-Zeitschrift „GutePillenSchlechtePillen“ auch an Patienten weiter. (Bildrechte: Bruno Müller-Oerlinghausen, privat)
Martina Wenker (*1958)
Internistin, Pneumologin, Allergologin, Präsidentin der Ärztekammer Niedersachen und Vizepräsidentin der Bundesärztekammer. Brachte 2012 die Ärztekammer Niedersachsen dazu, gesponserte Kongressbesuche nicht länger durch die Berufsordnung zu legitimieren, als erste und einzige Landesärztekammer in Deutschland. Hat jetzt weniger Freunde – vor allem beim Hartmannbund. (Bildquelle: © Ärztekammer Niedersachsen)
Ben Goldacre (*1974)
Psychiater, Epidemiologe, Wissenschaftsjournalist, Aktivist und Entertainer (www.youtube.com/watch?v=RKmxL8VYy0M). Brachte das Thema Publication Bias auf die internationale Tagesordnung, also das Unter-den-Teppich-Kehren unvorteilhafter Studien. Landete mit „Bad Pharma“ seinen zweiten Bestseller nach „Bad Science“. Initiierte die Kampagne „All trials registered – all results reported“ (www.alltrials.net), der sich innerhalb weniger Monate mehr als 55.000 Wissenschaftler und über 300 medizinische Organisationen anschlossen. Beeinflusste damit auch die neue Arzneimittelrichtlinie der EU, in die nach Intervention der Evidenzbewegung eine Verpflichtung zur Veröffentlichung aller Studienberichte neu zugelassener Medikamente aufgenommen wurde. (Bildquelle: www.badscience.net)
Fiona Godlee (*1961)
Ärztin und Herausgeberin des BMJ seit 2005, Leiterin des Committee on Publication Ethics, dem weltweit über 6000 akademische Zeitschriften angehören. Kämpft seit Jahren für die Offenlegung aller Studiendaten. Dokumentierte im BMJ die Kontroverse zwischen Roche und der nordischen Cochrane-Kollaboration um das Grippemittel Oseltamivir (Tamiflu), dessen vollständige Studiendaten erst 2013 von der Firma herausgegeben wurden. Schob gemeinsam mit Ben Goldacre die Kampagne alltrials.net an. (Bildquelle: en.wikipedia.org)
Archie Cochrane (1909-1988)
Pulmologe, Epidemiologe, Namensgeber der International Cochrane Collaboration, die allerdings erst 5 Jahre nach seinem Tod gegründet wurde. Kritisierte seine ärztlichen Kollegen für ihr Desinteresse an einer wissenschaftlichen Fundierung ihrer Tätigkeit. Propagierte randomisierte klinische Studien als Goldstandard der medizinischen Forschung. Konnte die vielfältigen Möglichkeiten der Manipulation randomisierter Studien kaum vorausahnen.
(Bildquelle: en.wikipedia.org, Cardiff University Library)
Peter Gøtzsche (*1949)
Sein Berufsleben begann Peter Gøtzsche nach einem Studium der Biologie und Chemie in der Pharmaindustrie. Später studierte er Medizin, wurde Internist und gründete 1993 das Nordic Cochrane Centre in Kopenhagen. Sein Schwerpunkt ist die Methodik klinischer Studien. Er war an der Entwicklung des CONSORT-Statements beteiligt, einem Standard für randomisierte Studien, sowie an PRISMA zur Bewertung von systematischen Reviews und Metaanalysen. Seit 1997 leitet er die Cochrane Methodology Group. Mit 70 Artikeln ist er in den „Big five“ vertreten (BMJ, Lancet, JAMA, Ann Intern Med, NEJM). Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen Rational diagnosis and treatment: evidence based clinical decision making (2007) und Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität (2014). Peter Gøtzsches besondere Stärke: Klartext ohne Weichspüler. (Bildquelle: www.cochrane.dk)
Klaus Lieb (*1965)
Ordinarius für Psychiatrie in Mainz, Mitherausgeber von InFo Neurologie&Psychiatrie. Gründete mit anderen die pharmakritischen Ärztevereinigung Mezis („Mein Essen zahl ich selbst“). Gab mit David Klemperer und Wolf-Dieter Ludwig das erste deutsche Buch über „Interessenkonflikte in der Medizin“ heraus. Organisierte 2013 mit der Volkswagenstiftung eine Expertentagung zum gleichen Thema. Markenzeichen: Sanft im Ton, entschlossen in der Sache. Wurde ohne Umschweife zum Hochschullehrer des Jahres 2012 gewählt. (Bildquelle: Klaus Lieb, privat)
Ewa Kopacz (*1956)
Allgemeinärztin, ehemalige polnische Gesundheitsministerin und Ministerpräsidentin. Kritisierte 2009 als einzige EU-Gesundheitsministerin die Schweinegrippe-Impfung. Stellte die Pandemie-Definition der WHO in Frage, die kurz vor Auftreten der Schweinegrippe eingeführt worden war und in vielen Ländern Millionen-Verträge zum Kauf von Impfstoffen aktivierte. Ersparte damit ihrem Land dreistellige Millionenbeträge. Konnte damals nur ahnen, dass der wichtigste Faktor für die mediale Ausbreitung der Schweinegrippe die finanzielle Verbindung zwischen Impfstoff-Herstellern und Experten der WHO war. (Bildquelle: en.wikipedia.org)