Ästhetik

Medizinische Kongresse werden von der Marketing-Kultur geprägt.

Zu Gast beim europäischen Fachkongress für Turbomedizin. Diesmal mit einer Rekordzahl von 9000 Teilnehmern. Schon auf dem Weg vom Bahnhof durch die Stadt erkennt man sie an den großen Umhängetaschen. Darauf der Namenszug einer Arzneimittelfirma, man kann ihn von der anderen Straßenseite lesen. Fürs Namensschild muss man näher ran. Es baumelt an einem grellbunten Halsband, darauf das Logo einer anderen Firma.

Beim Kongress angekommen: Orientierungskrise. Die große Ausstellungshalle muss durchquert werden, um einen Vortragssaal zu erreichen. Haushohe Messestände, ausgeleuchtet wie Fernsehstudios. Von der Wand lächeln großformatige Pseudopatienten von der Modelagentur und danken ihrem Arzt für die Lebensrettung durch eine kostspielige Verordnung. Und dann die Duftwolken: Waffeln, Zimt, karamellisierte Walnüsse: welcher Stand zieht mit seinen Gratisleckereien die meisten Ärzte an? Mittagessen zum Selberzahlen gibt es nirgendwo. Dafür aber Spielzeug vom Arzneimittelhersteller: ein Legopaket für den Arztsohn und einen rosa Bären für die Arzttochter, ebenfalls umsonst. Da sind die großen Taschen doch praktisch, zumindest wenn die ganze Werbung erstmal raus ist. Leistungsorientierte Ärzte zieht es zu Gewinnspielen: wer die drei Vorzüge der Wunderpille wiederholen kann, räumt ab. Linkerhand bieten sich Pharma-Hostessen zum Schuheputzen an. Sportliche Kollegen versuchen sich an einem Golftrainingsgerät – ganz produktneutral. Drei Kolleginnen kreischen beim virtuellen Wellenreiten. Die ganze Halle schwirrt vor Erregung.

Schließlich im Vortragssaal angekommen: eine andere Welt, im Halblicht, erst mal durchatmen. Angenehme Ruhe, gedämpfte Stimmen. Dann der Redner: nüchterner Tonfall, Zahlen, Tabellen, Fachdiskussion. Fast ein bisschen langweilig, etwas für den Intellekt halt. Draußen in der Halle geht es um die Sinne, mit allen Mitteln. Der Kontrast der Kulturen – Wissenschaft gegen Pharmatrash – nervt mittlerweile auch etliche Befürworter der Industrie-gesponserten Kongresse, macht er doch die Fremdbestimmung der Medizin allzu kenntlich. Vielleicht werden sie die ersten sein, die den Spuk beenden.

P.S.: Alle Beobachtungen entstammen der Realität.